01.08.2015

Vom laienhaften gesunden Menschenverstand zur professionellen Betriebsblindheit?

"Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren." Dieses Benjamin Franklin zugeschriebene, abgedroschene, aber zum heutigen 1. August passende Zitat, kommt mir angesichts der nicht abreissenden Kette von Berichte über Fehlleistungen von Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden in verschiedenen Kantonen in den Sinn.

Die Revision des Vormundschaftsrechts, verbunden mit der Umbenennung zum "Kindes- und Erwachsenenschutzrecht" und der Einsetzung professioneller "KESB", verfolgte ein ehrenwertes Ziel: Die ausdrückliche Absicht war, das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen zu stärken. Es wurden flexible rechtliche Instrumente geschaffen, die es ermöglichen sollten, für den Einzelfall massgeschneiderte Interventionen zu verfügen. Dieses Ziel ist offensichtlich verfehlt worden, wenn mit beunruhigender Regelmässigkeit Fälle zu Tage treten, in denen unverhältnismässige Eingriffe und Zwangsmassnahmen verfügt und von den Rekursinstanzen gedeckt werden.

Das Problem liegt aber nicht etwa darin, dass die Behörden grundlos Massnahmen anordnen würden. In den Fällen, die in den Medien bekannt geworden sind, wie auch in anderen Fällen, die ich beruflich noch unter dem alten Recht kennengelernt habe, war wohl meist zunächst eine Situation gegeben, die ein Eingreifen der KESB bzw. Vormundschaftsbehörde rechtfertigte oder gerechtfertigt erscheinen liess. Die Erfahrung zeigt aber, dass sich Behörden und Betreuer oft unglaublich schwer damit tun, eine einmal angeordnete Massnahme wieder aufzuheben, wenn sich die Situation beruhigt hat oder als nicht so gravierend erwiesen hat. Besonders fatal ist das, wenn es sich um einen Obhutsentzug mit Fremdplazierung handelt.

Ist der Obhutsentzug einmal angeordnet - und sei es nur superprovisorisch, d.h. ohne Anhörung der Betroffenen! -, droht dessen Bestätigung und Perpetuiierung auf unbestimmte Zeit. Die Statistik zeigt denn auch, dass die meisten Obhutsentzüge jahrelang, nämlich im Durchschnitt rund 3,5 Jahre, dauern. Die Gründe dafür müssen nicht bei den Eltern liegen. Unter den professionellen Kindesschützern gilt es nämlich als ausgemacht, dass jede Veränderung der Betreuungssituation a priori dem Kindswohl abträglich sei. So kommt es vor, dass selbst ein vollkommen unbegründeter Obhutsentzug statt mit einer schlichten Aufhebung damit endet, dass monatelange Übergangsmassnahmen angeordnet werden, weil das Kind sich nun - nach monate- oder gar jahrelangem Gerichtsverfahren - an die neue Situation gewöhnt habe.

Überhaupt gilt es in den Augen der Behörden um jeden Preis zu vermeiden, dass ein Kind aus dem Heim entlassen und kurze Zeit später doch wieder fremdplaziert werden muss. Eine Rückkehr in die gleiche Institution ist nämlich selten möglich, weil der Platz unterdessen wieder anderweitig besetzt ist. Es muss folglich ein neues Heim gesucht werden. Das ist für das Kind nicht ideal, vor allem aber bedeutet es viel zusätzliche Arbeit für die plazierende Behörde.

Hinzu kommt natürlich, dass die betreuenden Institutionen "ihre" Kinder oft nicht gern wieder hergeben, nicht nur, aber auch aus finanziellem Interesse. Die KESB und Rekursinstanzen werden sich aber in der Regel stark auf die Beurteilung der Institution stützen (müssen).

Den Eltern wird in der Zwischenzeit abverlangt, dass sie sich bewähren, ohne dazu Gelegenheit zu haben. Üben sie Kritik an den Behörden, gelten sie als uneinsichtig und haben keine Aussicht, ihr Kind zurückzubekommen. Verzichten sie hingegen auf einen Rekurs, weil sie der Versicherung Glauben schenken, dass man die Massnahme so bald als möglich aufheben werde, gilt das als Bestätigung, dass der Obhutsentzug gerechtfertigt sei.

Das fremdplazierte Kind ist anfangs verstört, weil es die Eltern vermisst. Später beginnt es sich daran zu gewöhnen. Vielleicht baut es eine Bindung zu den Betreuern auf, wie das bei Geiselnahmen als Stockholm-Syndrom bekannt ist. Institutionen und KESB deuten solche Entwicklungen aber ganz anders: Dem Kind gehe es jetzt besser, weil die Fremdplazierung ihre positive Wirkung zeige.

Alle diese Mechanismen führen dazu, dass sich die Betroffenen in einem kafkaesken Prozess wiederfinden, dessen Ergebnis darin besteht, dass ein Obhutsentzug im Zweifelsfall aufrechterhalten statt aufgehoben wird: Sicherheit statt Freiheit ist die Devise. Mit dem Gesetz, das den Obhutsentzug als ultima ratio versteht, ist das natürlich ebenso wenig vereinbar wie mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das aus Art. 8 EMRK hervorgeht.

Was ist also zu tun?

Klar ist, dass der bestehende Rechtsmittelweg nicht genügend ist, denn zwischen den betroffenen Personen und der Behörde besteht systembedingt ein eklatantes Machtgefälle, das auch vor Gericht zum Tragen kommt. Ausserdem gibt es immer noch Rekursinstanzen wie das Kantonsgericht Uri, die eine Anhörung des Betroffenen nicht für nötig halten.

Das Problem ist auch, dass wegen des zum Schutz der betroffenen errichteten strikten Amtsgeheimnisses keinerlei öffentliche Kontrolle besteht. Was eine KESB anordnet, ist für die Betroffenen nicht weniger einschneidend als ein Strafverfahren. Dort gilt aber das Prinzip der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung, während sich die Behörden im Kindes- und Erwachsenenschutz hinter dem Amtsgeheimnis verschanzen müssen und dürfen.

Eine Rückkehr zum alten System der Laienbehörden kann nicht die Lösung sein. Ausserdem kann man den Kantonen und Städten, in denen schon bisher professionelle Behörden eingesetzt waren, nicht neuerdings eine Laienbehörde aufzwingen. Es braucht darum zusätzliche Kontrollmechanismen, die frei von professioneller Betriebsblindheit sind. Eine Möglichkeit wäre eine unabhängige, nicht allein aus Fachleuten zusammengesetzte Aufsichtsinstanz, die die Tätigkeit der Behörden unabhängig von einem allfälligen Rekursverfahren beaufsichtigt. Ich werde mir zum Thema in der nächsten Zeit Gedanken machen und allenfalls einen Vorstoss im Landrat einreichen. Anregungen zum Thema sind willkommen.

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