24.08.2015

Warum ich keine "Handwerker" in den Nationalrat wähle

Drei "Handwerker" treten gegen den Regulierungswahn an, der in Bern "von Juristen und Akademikern" verursacht werde. (An dieser Stelle könnte der Blog mit der Pointe enden, dass der prominenteste der drei "Handwerker", FDP-Landratsfraktionspräsident Rolf Richterich, als dipl. Ing. ETH selber ein Akademiker ist.)

Die Diagnose könnte nicht verkehrter sein. Natürlich sind es Juristen und andere Akademiker, die die überbordende Flut an neuen Gesetzen und Verordnungen verfassen. Dass sie dies tun, liegt aber nicht an ihrer Ausbildung, sondern daran, dass das Parlament aus Zeitmangel, Bequemlichkeit und nicht selten auch aus Inkompetenz immer mehr Kompetenzen an den Bundesrat und die Verwaltung delegiert.

Nehmen wir eine aktuelle Vernehmlassungsvorlage, einen 2000 Seiten starken Strauss von Lebensmittelverordnungen aus dem Departement des Etatisten Berset (herunterzuladen als ZIP-File von 16 MB). Dieses irre Gesetzeswerk, das unter anderem die Wirte zur Deklaration sämtlicher Ingredienzen eines Menus, deren Herkunft und Nährwerte verpflichten will, beruht auf dem nur 29 Seiten langen, Mitte 2014 verabschiedeten Lebensmittelgesetz. Dieses "schlanke" Gesetz besteht aber zu einem grossen Teil aus lakonischen Kompetenzdelegationen an den Bundesrat wie den folgenden:

"Der Bundesrat bestimmt die Tierarten, deren Fleisch als Lebensmittel verwendet werden darf." (Art. 9 Abs. 1)

"Der Bundesrat kann weitere Angaben vorschreiben, namentlich über: a. Haltbarkeit; b. Aufbewahrungsart; c. Herkunft der Rohstoffe; d. Produktionsart; e. Zubereitungsart; f. besondere Wirkungen; g. besondere Gefahren; h. Nährwert.
Er kann Vorschriften erlassen darüber, wie Betriebe, die zubereitete Speisen an Konsumentinnen und Konsumenten abgeben, die Speisen auf ihren Menükarten zu kennzeichnen haben." (Art. 13 Abs. 1 und 2)

"Der Bundesrat kann Anforderungen an die Kennzeichnung von Gebrauchsgegenständen und an die Werbung für sie festlegen." (Art. 16 Abs. 2)

Das Parlament hat also den Bundesrat - ohne irgendwelche Kriterien vorzugeben - ermächtigt, beispielsweise zu bestimmen, dass aus religiöser Rücksichtnahme kein Schweinefleisch verkauft werden darf. (Das Beispiel ist nicht so absurd, wie es scheint: Dass Hunde, Katzen und Meerschweinchen nicht als Schlachttiere zugelassen sind, hat keine lebensmittelhygienischen, sondern ausschliesslich kulturelle Gründe.)

Natürlich ist das Parlament davon ausgegangen, dass der Bundesrat das nicht tun wird.

Ebenso hat das Parlament den Bundesrat ermächtigt, die Wirte, Bäcker und Takeaway-Betreiber zu lückenloser Deklaration von allem und jedem zu verpflichten. Und natürlich ist das Parlament davon ausgegangen, dass der Bundesrat das nicht tun wird. Aber genau das will er jetzt tun.

Die Eidgenössischen Räte hätten es in der Hand gehabt, alle einigermassen wesentlichen Bestimmungen des Lebensmittelrechts in das Gesetz zu schreiben und dem Bundesrat die technischen Belange zu überlassen. Sie haben dies nicht getan, weil dies viel Arbeit bedeutet; Zeit, die dann fehlt, um beispielsweise sich mit häufig unnützen persönlichen Vorstössen zu profilieren. Ausserdem klingt es gut, dass man sich "auf die grossen Leitlinien beschränkt" und alles andere delegiert.

Aber betriebswirtschaftliche Führungsprinzipien lassen sich nicht ohne weiteres auf das Verhältnis zwischen Parlament und Exekutive übertragen. Stattdessen müsste sich das Parlament wieder darauf besinnen, dass alle wesentlichen Regelungen in ein Gesetz gehören, auch wenn dies bedeutet, dass es sich mit sehr viel mehr scheinbar undankbarer Detailarbeit befassen muss.

Und genau darum wähle ich keine "Handwerker", die sich nicht mit juristischer Feinarbeit befassen mögen, in den Nationalrat.

01.08.2015

Vom laienhaften gesunden Menschenverstand zur professionellen Betriebsblindheit?

"Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren." Dieses Benjamin Franklin zugeschriebene, abgedroschene, aber zum heutigen 1. August passende Zitat, kommt mir angesichts der nicht abreissenden Kette von Berichte über Fehlleistungen von Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden in verschiedenen Kantonen in den Sinn.

Die Revision des Vormundschaftsrechts, verbunden mit der Umbenennung zum "Kindes- und Erwachsenenschutzrecht" und der Einsetzung professioneller "KESB", verfolgte ein ehrenwertes Ziel: Die ausdrückliche Absicht war, das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen zu stärken. Es wurden flexible rechtliche Instrumente geschaffen, die es ermöglichen sollten, für den Einzelfall massgeschneiderte Interventionen zu verfügen. Dieses Ziel ist offensichtlich verfehlt worden, wenn mit beunruhigender Regelmässigkeit Fälle zu Tage treten, in denen unverhältnismässige Eingriffe und Zwangsmassnahmen verfügt und von den Rekursinstanzen gedeckt werden.

Das Problem liegt aber nicht etwa darin, dass die Behörden grundlos Massnahmen anordnen würden. In den Fällen, die in den Medien bekannt geworden sind, wie auch in anderen Fällen, die ich beruflich noch unter dem alten Recht kennengelernt habe, war wohl meist zunächst eine Situation gegeben, die ein Eingreifen der KESB bzw. Vormundschaftsbehörde rechtfertigte oder gerechtfertigt erscheinen liess. Die Erfahrung zeigt aber, dass sich Behörden und Betreuer oft unglaublich schwer damit tun, eine einmal angeordnete Massnahme wieder aufzuheben, wenn sich die Situation beruhigt hat oder als nicht so gravierend erwiesen hat. Besonders fatal ist das, wenn es sich um einen Obhutsentzug mit Fremdplazierung handelt.

Ist der Obhutsentzug einmal angeordnet - und sei es nur superprovisorisch, d.h. ohne Anhörung der Betroffenen! -, droht dessen Bestätigung und Perpetuiierung auf unbestimmte Zeit. Die Statistik zeigt denn auch, dass die meisten Obhutsentzüge jahrelang, nämlich im Durchschnitt rund 3,5 Jahre, dauern. Die Gründe dafür müssen nicht bei den Eltern liegen. Unter den professionellen Kindesschützern gilt es nämlich als ausgemacht, dass jede Veränderung der Betreuungssituation a priori dem Kindswohl abträglich sei. So kommt es vor, dass selbst ein vollkommen unbegründeter Obhutsentzug statt mit einer schlichten Aufhebung damit endet, dass monatelange Übergangsmassnahmen angeordnet werden, weil das Kind sich nun - nach monate- oder gar jahrelangem Gerichtsverfahren - an die neue Situation gewöhnt habe.

Überhaupt gilt es in den Augen der Behörden um jeden Preis zu vermeiden, dass ein Kind aus dem Heim entlassen und kurze Zeit später doch wieder fremdplaziert werden muss. Eine Rückkehr in die gleiche Institution ist nämlich selten möglich, weil der Platz unterdessen wieder anderweitig besetzt ist. Es muss folglich ein neues Heim gesucht werden. Das ist für das Kind nicht ideal, vor allem aber bedeutet es viel zusätzliche Arbeit für die plazierende Behörde.

Hinzu kommt natürlich, dass die betreuenden Institutionen "ihre" Kinder oft nicht gern wieder hergeben, nicht nur, aber auch aus finanziellem Interesse. Die KESB und Rekursinstanzen werden sich aber in der Regel stark auf die Beurteilung der Institution stützen (müssen).

Den Eltern wird in der Zwischenzeit abverlangt, dass sie sich bewähren, ohne dazu Gelegenheit zu haben. Üben sie Kritik an den Behörden, gelten sie als uneinsichtig und haben keine Aussicht, ihr Kind zurückzubekommen. Verzichten sie hingegen auf einen Rekurs, weil sie der Versicherung Glauben schenken, dass man die Massnahme so bald als möglich aufheben werde, gilt das als Bestätigung, dass der Obhutsentzug gerechtfertigt sei.

Das fremdplazierte Kind ist anfangs verstört, weil es die Eltern vermisst. Später beginnt es sich daran zu gewöhnen. Vielleicht baut es eine Bindung zu den Betreuern auf, wie das bei Geiselnahmen als Stockholm-Syndrom bekannt ist. Institutionen und KESB deuten solche Entwicklungen aber ganz anders: Dem Kind gehe es jetzt besser, weil die Fremdplazierung ihre positive Wirkung zeige.

Alle diese Mechanismen führen dazu, dass sich die Betroffenen in einem kafkaesken Prozess wiederfinden, dessen Ergebnis darin besteht, dass ein Obhutsentzug im Zweifelsfall aufrechterhalten statt aufgehoben wird: Sicherheit statt Freiheit ist die Devise. Mit dem Gesetz, das den Obhutsentzug als ultima ratio versteht, ist das natürlich ebenso wenig vereinbar wie mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das aus Art. 8 EMRK hervorgeht.

Was ist also zu tun?

Klar ist, dass der bestehende Rechtsmittelweg nicht genügend ist, denn zwischen den betroffenen Personen und der Behörde besteht systembedingt ein eklatantes Machtgefälle, das auch vor Gericht zum Tragen kommt. Ausserdem gibt es immer noch Rekursinstanzen wie das Kantonsgericht Uri, die eine Anhörung des Betroffenen nicht für nötig halten.

Das Problem ist auch, dass wegen des zum Schutz der betroffenen errichteten strikten Amtsgeheimnisses keinerlei öffentliche Kontrolle besteht. Was eine KESB anordnet, ist für die Betroffenen nicht weniger einschneidend als ein Strafverfahren. Dort gilt aber das Prinzip der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung, während sich die Behörden im Kindes- und Erwachsenenschutz hinter dem Amtsgeheimnis verschanzen müssen und dürfen.

Eine Rückkehr zum alten System der Laienbehörden kann nicht die Lösung sein. Ausserdem kann man den Kantonen und Städten, in denen schon bisher professionelle Behörden eingesetzt waren, nicht neuerdings eine Laienbehörde aufzwingen. Es braucht darum zusätzliche Kontrollmechanismen, die frei von professioneller Betriebsblindheit sind. Eine Möglichkeit wäre eine unabhängige, nicht allein aus Fachleuten zusammengesetzte Aufsichtsinstanz, die die Tätigkeit der Behörden unabhängig von einem allfälligen Rekursverfahren beaufsichtigt. Ich werde mir zum Thema in der nächsten Zeit Gedanken machen und allenfalls einen Vorstoss im Landrat einreichen. Anregungen zum Thema sind willkommen.